Emotionales Essen verstehen und überwinden - Katrin Mehner - Heilpraktikerin für Psychotherapie

Das NOVA Expert Interview

Sehr geehrte Frau Mehner,

Sie sind Heilpraktikerin für Psychotherapie und praktizieren in Berlin-Charlottenburg.

Bitte stellen Sie Ihr Tätigkeitsfeld einmal kurz unseren Lesern vor.
Als Heilpraktikerin für Psychotherapie begleite ich Menschen, die ein Problem mit emotionalem Essen haben. Während Viele mit diesem Begriff etwas Schönes und Genussvolles assoziieren, ist es für nicht wenige mit einem hohen Leidensdruck verbunden. Viele Menschen mit einer emotionalen Essstörung haben schon unzählige Diäten hinter sich und kennen den Jo-Jo-Effekt. Aber die Kilos sind nur die Folge, nicht die Ursache. Würde es wirklich um die Kilos gehen, wäre es mit einer einmaligen Diät getan. Aber fast jeder, der schon einmal eine Diät gemacht und dadurch abgenommen hat, kennt das Gefühl, irgendwann auch wieder zu zunehmen.

Schwerpunkt meiner therapeutischen Arbeit ist das Erkennen und Auflösen biografischer Kopplungen, welche unter dem emotionalen Essen liegen. Denn mit fehlender Disziplin, wie Manche glauben, hat das nichts zu tun. Doch nicht alle Klienten, die zu mir kommen, haben ein emotionales Essproblem. Wenn traumatische und emotionale Erlebnisse im Vordergrund stehen, kommt Brainspotting (Traumatherapie), zum Einsatz. Ich arbeite ich nach der Methode Sehnsucht und Hunger (Maria Sanchez) sowie Brainspotting (David Grand) und nutze meine Erfahrungen aus der Suchtberatung.

Was hat Sie dazu bewegt Ihren heutigen Beruf zu ergreifen?
Mein beruflicher Werdegang begann ursprünglich im Marketing und Projektmanagement … internationale Unternehmen … regelmäßige Umzüge, auch ins Ausland. Rückblickend würde ich sagen: bei all der Karriereorientierung habe ich mich irgendwann selbst verloren. Andere Menschen entwickeln ein Burnout, bei mir war es eine Essstörung (die ihre Wurzeln in der frühen Biografie hat, aber mit Anfang 20 erst richtig deutlich wurde).

Ich wusste lange Zeit nicht wirklich, was mit mir los war. Einerseits machte mir das Essen Angst, andererseits fühlte ich mich verantwortlich, es zu „vernichten“. Es gab nur zwei Extreme: nichts zu essen – oder alles. Am Schlimmsten waren Buffets, denen ich mich hilflos ausgeliefert fühlte. Auf meinem eigenen Weg habe ich mich einem Automatismus hilflos ausgeliefert gefühlt, die Gedanken drehten sich ständig ums Essen. Ich konnte nicht verstehen, warum ich alles im Leben schaffte, was ich mir vornahm, aber beim Essen regelmäßig „versagte“.

Alles was ich wollte, war „normal“ zu essen, wie andere Menschen auch.

Was Viele nicht ahnen und gerade sehr übergewichtige Betroffene oft nicht verstehen können, ist die Tatsache, dass auch „normalgewichtige“ oder „schlanke“ Menschen sehr unter ihrer emotionalen Essproblematik leiden können. Der Leidensdruck ist oft der Gleiche – unabhängig davon, ob es 5 oder 50 Kilo zu viel auf der Waage sind.

Als ich zu Sehnsucht und Hunger und Maria Sanchez kam, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wirklich verstanden zu werden. Ich hatte das Glück, zur ersten Ausbildungsgruppe zu gehören und in diesen drei Jahren meinen eigenen Heilungsweg zu gehen. Je mehr ich mich mit dem Thema Essen (auch Essen als Sucht) beschäftigte und zusätzliche therapeutische Ausbildungen machte, desto klarer wurde für mich mein neuer Lebensweg. Ich kehrte meiner bis dato für mich so wichtigen Karriere den Rücken und beschloss, meine Erfahrungen weiterzugeben und andere Menschen auf ihrem Weg zu unterstützen. Das ist in jeder Stunde ein wertvolles und bereicherndes Gefühl.

Im Hauptfokus Ihrer Arbeit steht die Therapie bei Essstörungen bzw. das emotionale Essen. Können Sie einmal umreißen, was genau emotionales Essen eigentlich ist? Welche Qualität und Aufgabe hat es für den Betroffenen?
Menschen mit einem emotionalen Essenproblem klagen häufig über einen hohen Leidensdruck beim Essen. Sie können oftmals nicht mehr zwischen körperlichem und emotionalem Hunger unterscheiden, denn das natürliche Empfinden von Hunger und satt sein funktioniert nicht mehr. Emotionales Essen heißt, wir essen mehr, als unser Körper eigentlich braucht. Wir essen, ohne körperlichen Hunger zu haben, weil wir entweder eine Mahlzeit hungrig beginnen und dann nicht stoppen können oder aber sofort ohne Hunger essen.

Die entscheidende Frage ist: Warum wir mehr essen, als unser Körper tatsächlich braucht? Häufig unbewusst, versuchen wir über das Essen einen seelischen Hunger zu befriedigen oder unangenehme Gefühle abzudämpfen. Darunter zu verstehen ist das Abdämpfen von meist negativen Emotionen wie Stress, Einsamkeit, Verzweiflung, Verärgerung, Traurigkeit, Angst oder Langeweile mit Hilfe von Essen. Das kennt vermutlich jeder und es ist auch nicht schlimm, wenn es ab und zu vorkommt. Betroffene aber sehen oftmals keine Alternative als zum Essen (oder einem anderen Suchtmittel) zu greifen und dann ist vielleicht ein Punkt gekommen, wo professionelle Unterstützung erforderlich ist.

Die Kopplungen entstehen sehr früh in unserer Biografie, denn um innere Anspannung zu reduzieren und unangenehme Emotionen nicht fühlen zu müssen, entwickeln Kinder unbewusst verschiedene Bewältigungsstrategien. Dazu gehört auch das Essen. Das emotionale Essen umfasst mehr als die drei bekannten Essstörungen (Magersucht, Bulimie und Binge-Eating).

Auch gibt es Menschen, die zwar übergewichtig sind, sich aber trotzdem wohl fühlen und keinen Wunsch nach Gewichtsreduzierung oder Veränderung haben. Und das ist in Ordnung. Entscheidend für die Diagnose bzw. eine therapeutische Begleitung ist die Frage, ob ein Leidensdruck vorhanden ist.

Was bedeutet Suchtverlagerung?
Wie bei jedem Suchtmittel liegt auch dem emotionalen Essen eine Suchtstruktur zugrunde, deren Auflösung Zeit braucht. Anders als bei anderen Süchten kann man nicht einfach sagen „ich esse nicht mehr“. Und genau das macht die Auflösung der Sucht so schwierig, denn wir müssen essen und sind damit immer wieder mit dem Suchtmittel an sich, dem Essen, konfrontiert. Es kommt nicht selten vor, dass Betroffene den Eindruck haben, dass das emotionale Essen gerade ein wenig besser wird, nur um festzustellen, dass sie stattdessen verstärkt zu anderen Suchtmitteln wie Alkohol oder Nikotin greifen. Oder sie geben viel mehr Geld als bisher für Einkäufe aus. Bei mir war es zum Beispiel der Sport.

In diesen Fällen spricht man von einer Suchtverlagerung. Dann gibt es zwar eine Veränderung am Symptom, aber die Kopplung darunter ist noch da. Sie arbeiten u. a. mit dem ganzheitlichen Therapieansatz „Sehnsucht und Hunger“ nach Maria Sanchez.

Wo sehen Sie die besonderen Stärken dieses Therapieansatzes im Vergleich zu anderen Wegen um Essstörungen zu lösen?
Während andere Wege sich meist nur mit dem Essen als Symptom beschäftigen und nach einem Umgang mit der Problematik suchen, beleuchtet Sehnsucht und Hunger die tieferliegenden Gründe unter dem emotionalen Essen – das heißt, die Kopplung zwischen Essen und Emotionen, die wir biografisch vor vielen Jahren in unserer Kindheit unbewusst gebildet haben – und löst sie langsam auf. Denn Essen ist nur die Folge, aber nicht die Ursache. Aus diesem Grund ermöglichen Sport- und Ernährungspläne, Diäten und andere reglementierende Maßnahmen nur einen Umgang mit dem Essproblem, schauen aber nicht auf das, worum es wirklich geht bzw. wofür das Essen ersatzweise benötigt wird.

Anders als häufig angenommen, geht das Verlangen nach Essen nicht einfach so weg, nur weil man ihm nicht nachgibt. Gerade Ernährungsexperten geben oft Empfehlungen wie „Lenken sie sich ab.“, „Denken sie an etwas Schönes.“, „Gehen sie spazieren oder genießen sie ein Bad.“ Diese Empfehlungen sind aus meiner eigenen Erfahrung heraus absoluter Unsinn und wer solche Tipps gibt, hat vermutlich nie selbst an einer Essstörung gelitten. Es ist vielmehr so, dass man, wenn man diese Empfehlungen beherzigt, eben danach oder nebenbei emotional isst. Die Gier, also dieser starke Essdruck, verschwindet nicht einfach, nur weil man sich ablenkt.

Sehnsucht und Hunger ist nicht nur ein Therapieansatz, er ist vielmehr eine Haltung. Es geht auch um „Freiheit“, darum „ein Wahl zu haben“. Das betrifft nicht immer nur das Essen, sondern ist auch auf ganz verschiedene Alltagssituationen übertragbar.

Wie gestaltet sich eine Therapie/Beratung wenn ich mit Ihrer Hilfe mein Essverhalten verändern möchte? Wie lange dauert ein Umstellungsprozess?
Das ist ganz individuell. Entscheidend ist der Leidensdruck, den ein Klient durch sein Essverhalten spürt. Es gibt Klienten, die möchten gezielt bestimmte Themen bearbeiten, von welchen sie bereits wissen, dass sie für ihr emotionales Essverhalten ausschlaggebend sind. Andere wiederrum haben den Wunsch, sich ihre Biografie in allen Einzelheiten anzuschauen. Entscheidend ist auch, was in der therapeutischen Arbeit aufkommt, denn es ist verständlich, dass wir Situationen und Erlebnisse in unserer frühen Biografie, die wir nicht aushalten konnten, verdrängt haben. Kontrolle spielt oft eine Rolle dabei. Es ist wichtig herauszufinden, wofür jemand das emotionale Essen (oder ein anderes Suchtmittel) benutzt und was er oder sie eigentlich bräuchte.

Klienten lernen, den Essdruck als eine Art Wegweiser zu nehmen, der uns darauf hinweist, dass etwas nicht in Ordnung ist. Meistens wollen wir etwas „wegmachen“ bzw. „nicht haben“. Wenn wir aber lernen, dem Essdruck zu vertrauen und uns erlauben, ihn zu spüren, kommen wir an die tieferliegenden Gründe ran. Durch die Arbeit mit uns selbst können wir wieder selbst die Verantwortung für uns und unser Wohlbefinden übernehmen.

Die Länge der Therapie richtet sich auch danach, ob ein Klient zwischen den Einzelstunden bereit ist, mit sich selbst weiter zu arbeiten, indem er die gelernten Übungen einsetzt und sein Essverhalten erforscht. Wichtig ist außerdem die Entscheidung, etwas verändern zu wollen. Diese Veränderung betrifft nicht nur das Essen, sondern auch die Gründe fürs emotionale Essen. Sonst arbeiten wir am Symptom, aber nicht an der Ursache. Diese Entscheidung muss mehrmals getroffen werden, denn in einer Suchtstruktur ist – gerade zu Beginn der Therapie – ein auf und ab völlig normal. Häufig haben Klienten schon andere Therapieformen probiert und bringen wertvolle Erkenntnisse und Vorarbeiten mit.

In fast jeder Therapie (von Beratung möchte ich nicht sprechen, denn ohne die aktive Mitarbeit des Klienten geht es nicht) nutze ich Sehnsucht und Hunger Elemente sowie das Brainspotting und integriere darüber hinaus auch andere Aspekte aus der Suchtberatung.

Können Sie uns vielleicht an einem Beispielfall verdeutlichen, wie sich die Therapie „Sehnsucht und Hunger“ in Kombination mit anderen Therapie-Elementen Ihrer Arbeit auswirken kann?
Dazu verweise ich gern auf meinen eigenen Essensheilungsweg und die Referenzen von Klienten auf meiner Website.

Was ist „Brainspotting“?
Brainspotting wurde von dem New Yorker Psychoanalytiker David Grand entwickelt und ist ein neuer therapeutischer Ansatz aus der Traumatherapie, mit welchem starke emotionale Ereignisse und Themen aus der Vergangenheit, welche wir heute noch spüren, behutsam aufgelöst werden können. Brainspotting basiert unter anderem auf der Erkenntnis, dass unsere Blickrichtung bestimmt, wie stark wir uns emotional mit einem Thema verbinden.

Während der Arbeit schaut der Klient auf einen bestimmten Punkt, welcher eine entsprechende Aktivierung im Gehirn hervorruft und zwar genau die Stelle, in welcher das zu verarbeitende Ereignis gespeichert wurde. So ist es möglich, tief im Gedächtnis abgelegte Ereignisse über die entsprechende Augenposition zu aktivieren und zu bearbeiten.

Über die Blickrichtung lässt sich immer der Punkt finden, an dem die entsprechenden Emotionen und Körperempfindungen am meisten spürbar sind (= Aktivierungs-Brainspot) und auch eine Blickrichtung, bei der das Thema in relativer Entspannung angeschaut werden kann (= Ressourcen-Brainspot).

Auf diese Weise entsteht ein „emotionaler Schieberegler“, der sicherstellt, dass der Klient sich mit therapeutischer Unterstützung behutsam das Thema anschauen kann und nicht von einer aufkommenden Erinnerung emotional überflutet wird.

Was ist Ihnen wichtig im Umgang mit Ihren Klienten?
Authentizität, Offenheit, Wertschätzung und ein respektvoller Umgang auf Augenhöhe, … es darf keine Abhängigkeit entstehen, die Verantwortung bleibt beim Klienten

Was ist aus Sicht von Klienten das Besondere an Ihrer Arbeit?
Es mangelt nicht an gutgemeinten Ratschlägen in unserem Umfeld von Menschen, die nie selbst eine Essstörung hatten. Meine Erfahrung ist, dass die wenigsten Nicht-Betroffenen den enormen Leidensdruck, der mit dem emotionalen Essen verbunden sein kann, nachvollziehen können. Das spüren auch Klienten. Und die Empfehlungen können nur ein Umgang mit dem Suchtmittel sein, aber meistens hilft das nur kurzfristig.

Ich bin überzeugt davon, dass man bei einer Thematik wie das emotionale Essen eigene Erfahrungen gemacht haben sollte, um wirklich unterstützen zu können. Und die Reaktionen meiner Klienten zeigen mir, dass sie sich in der Therapie nicht nur gut aufgehoben, sondern auch verstanden fühlen.

Ihr Lebensmotto in einem Satz?
Jeden Tag Neues entdecken, das Leben in seiner ganzen Vielfalt genießen und dabei immer wieder bewusst zu spüren: „ich bin bei mir selbst angekommen“.

Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Antworten.

22.07.2015

Link zum Interview

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